DIE FAKTEN IM HINTERGRUND:

DIE HISTORIE

HISTORISCHE FAKTEN ÜBER W. TELL

1. TELL – EIN SCHWEIZER PHÄNOMEN

Es gibt kaum einen Zweifel: Der Schütze Tell ist ein Weltstar. Dabei spielt es keine Rolle, wie er dazu wurde, ob er wirklich gelebt hat, ob seine Geschichte ihren Ursprung wirklich in der Urschweiz oder vielleicht nicht doch in Dänemark oder Persien hat. Tell hat seit seiner ersten Erwähnung um 1470 Generationen bewegt, als Freiheitskämpfer die Unterdrückten inspiriert und als Tyrannenmörder Machthaber und Usurpatoren empört. Bereits Tells Wirkungsgeschichte ist ein echter Thriller, und das macht ihn nicht bloss zu einem Phänomen, sondern in gewissem Sinn zu einer historischen Figur.

1.1 Weltberühmt
Wiewohl Tell zumindest als Mythos der wahrscheinlich berühmteste Schweizer überhaupt ist, scheint die neuere Kultur offenbar eine gewisse Art von Berührungsängsten zu haben, wenn es um den sagenhaften Schützen aus Uri geht. Nur so ist es zu erklären, dass der letzte Versuch, Tell in ernsthafter Manier auf die Kinoleinwand zu bringen, bereits 58 Jahre zurückliegt, abgesehen von einer Tell-Persiflage vor über zehn Jahren, eine Tell-Version, die allerdings ohne Wirkungsgeschichte blieb. Inzwischen gab es in Hollywood verschiedene Anstrengungen, Tell doch noch ein cineas-tisches Denkmal zu geben. Ein Versuch mit Brendan Fraser in der Titelrolle scheiterte 2008 und ein neues Projekt, nunmehr mit Jeremy Renner als Tell, scheint juristisch blockiert, weil Fraser offenbar Rechte am US-Tell-Projekt besitzt. Trotz zahlreicher Medienberichte über Hollywoods Versuch, Tell ins Kino zu bringen, ist es offenbar noch immer niemandem inner-halb des Schweizer Filmemacher-Zirkels in den Sinn gekommen, den Tell-Stoff zu verfilmen. Das ist mehr als verwunderlich. Im Grunde genommen ist es sogar schlicht nicht nachvollziehbar, dass man eine USP wie Tell brachliegen lässt und um eine so berühmte wie faszinierende Saga und eine so populäre Schweizer Marke einen Bogen zu machen scheint.

1.2 Die Schweizer Unlust an der Geschichte
Ein Grund mag mitunter sein, dass sich sowohl die Riege der Schweizer Filmemacher als auch die Kulturförderungen mit Schweizer Geschichte schwer zu tun scheinen – zumindest mit jener, die vor dem Zweiten Weltkrieg oder zumindest vor der Gründung der modernen Schweiz 1848 spielt. Das ist umso verwunderlicher, weil andere öffentlich-rechtliche Sender (ARD, ZDF, ORF) mit historisch angelegten Produktionen rekordverdächtige Quoten erzielten; in diesbezüglich bester Erinnerung bleiben etwa die im Spätmittelalter handelnden Produktionen wie „Die Wanderhure“ oder (und insbesondere) den monumental konzipierten Zweiteiler „Maximilian“.

1.3 Tell – eine internationale Marke
Nichts gilt bekanntlich ein Prophet in seiner Stadt, heisst es bereits im Lukas-Evangelium, und interessanterweise scheint man im Ausland das Potenzial des Tell-Stoffes weit besser zu erkennen als in seiner Heimat. Die Agentin von Heiki-Darstellerin Kathrin Kühnel, Tanja Rohmann, meinte, dass es schon erstaunlich sei, dass die Idee, endlich Tell zu verfilmen, offenbar noch niemandem gekommen sei. Und tatsächlich werde nun in Deutschland von dieser Tell-Produktion gesprochen – eine Information, die auch anderweitig bestätigt worden ist: Gissler-Darsteller Carlo Ljubek hat mir erzählt, dass er von Nikolaj Kinski bereits an der Berlinale anfangs Jahr auf dieses Tell-Projekt angesprochen worden sei. Das vorliegende Drehbuch auf der einen Seite, die ungeheuer zugträchtige und internationale Marke „Tell“ andererseits aber hat denn auch Constantin Film überzeugt, dieses Projekt mitzuentwickeln und mitzufinanzieren.

2. TELL HAT ES NIE GEGEBEN

Tell ist keine historische Figur. Davon jedenfalls ist das Gros der Historiker überzeugt. Und tatsächlich verdichten sich die Hinweise, dass der Verfasser der ersten Tellsgeschichte, der Obwaldner Staatsschreiber Hans Schriber, in seiner heute als „Weisses Buch von Sarnen“ bekannten Chronik die Tell-Saga aus verschiedenen Versatzstücken konstruiert hat. Dass der berühmte Apfelschuss der dänischen Toko-Sage entlehnt ist, erscheint naheliegend, umso mehr, da wir wissen, dass besagter Hans Schriber vor der Niederschrift seiner Chronik für zwei Jahre in Dänemark weilte.

2.1 Eine kleine Tellographie
Irgendwann zwischen 1185 und 1200 schreibt am Hof des Bischofs von Roskilde der Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus die Geschichte von Toko in seiner Chronik „Gesta Danorum“ auf und siedelt sie im 10. Jahrhundert an, als der norwegische König Harald Blauzahn ein hartes Regime ausübte. Der Apfelschuss des Toko ist einigermassen bekannt. Doch spannenderweise scheint die Legende vom Apfelschuss auch nicht in Dänemark ihren Ursprung zu haben: Aus Persien ist nämlich eine noch ältere Geschichte überliefert: Der Sufi-Dichter Farid du-Din Attar verfasst um 1177 eine Geschichte, in der sich ein Meisterschütze seiner Kunst so sicher war, dass er die Herausforderung annahm, mit Pfeil und Bogen einen Apfel vom Kopf seines geliebten Dieners zu schiessen. Es ist naheliegend, dass die Wikinger, die ja Raubzüge, aber auch Handelsexpeditionen bis in den Orient unternahmen, diese Geschichte nach Skandinavien brachten, wo sie ihren Weg auch nach Island und bis auf die Färöer-Inseln fand. Dort wird aus dem persischen und dem dänischen Apfel eine Nuss und auch der gewaltige Sprung, mit dem sich der Held Toko (auf den Färör-Inseln heisst der Held übrigens Palna-Toki und auf Island Heming As-laakson) rettet, kommt in die Schweiz, und so wird letztlich die persisch-nordische Geschichte zur Grundlage der weltberühmten Schweizer Sage. Das Weisse Buch erzählt die Gründungsgeschichte der Schweizer Eidgenossenschaft. Allein, vieles in Schribers Chronik, das wissen wir heute (und das war sogar bereits im 16. Jahrhundert bekannt), entspricht nicht den historischen Tatsachen und in Hans Schribers Schrift und später in der Tradition und noch mehr in der Geschichtsdeutung Ende des 19. Jahrhunderts bekam in der Gründungssaga einiges an Bedeutung, was heute historisch so nicht mehr zu rechtfertigen ist. Der sogenannte Rütlischwur etwa war, das wissen wir heute, keineswegs das Ur-Ereignis der Schweizer Eidgenossenschaft, sondern eine in der Geschichte eher unbedeutende Erneuerung eines bereits bestehenden Schutz- und Trutz-Bündnisses zwischen den drei Waldstätter-Talschaften Uri, Schwyz und Unterwalden.

2.2 Landvogt Gessler – eine literarische Erfindung?
Der berühmte Sturm auf die Burgen und Türme der Habsburger um das Neujahr 1291/92 fand nie statt und auch ein Landvogt Gjissler (später Gessler) ist historisch nicht verbürgt; seine Figur dürfte auf den Landvogt Ritter Eppo I. von Küssnacht zurückgehen, der die einheimische Bevölkerung tatsächlich drangsaliert haben soll. Wir wissen immerhin, dass dieser Ritter Eppo von der lokalen Bevölkerung fast totgeschlagen, jedenfalls im Jahr 1302 von seiner Burg verjagt worden ist. Hingegen ist in der an das Weisse Buch angelehnten Gründungslegende – neben dem 1291er Dokument – das einzige historisch verifizierbare Faktum der Mord am Landadeligen Wolfenschiessen. Dass sich übrigens die Brüder des Erschlagenen tatsächlich geweigert hatten, ihrer Pflicht zur Blutrache nachzukommen, ist ein historisches Kuriosum, das in meinem Film Erwähnung findet.

3. TELL UND DIE GESCHICHTE

Historisch ist, es wurde bereits zu Beginn erwähnt, Tells Mythos. Und der Tell-Mythos er-weist sich in der eidgenössischen Tradition als ungeheuer stark, und der Armbrustschütze wird bereits im 15., vor allem aber im 16. und 17. Jahrhundert zum symbolträchtigen Prototyp des furchtlosen Freiheitskämpfers. Tell wird zum Inbegriff des Eidgenossen und bald sind die drei auf dem Rütli schwörenden Eidgenossen einfach „die drei Tellen“.

3.1 Tell ist eine historische Tatsache 
Tellen-Lieder machen die Runde und während des grossen schweizerischen Bauernaufstandes vom Sommer 1653 findet kaum ein Aufmarsch statt, in dem nicht die „drei Tellen“ aufmarschieren, um die Verbindung zum Urkämpfer der Schweiz zu manifestieren. Der Tell-Kult animiert einen der drei „Tellen“ sogar, dem Armbrustschützen nachzueifern und den Luzerner Schultheiss Dulliker im Entlebuch mit einer Muskete totzuschiessen (wiewohl dieser wohl nicht ganz ein so probater Schütze war wie sein Idol; statt des Schultheissen tötete die Kugel des Killers bloss seinen Adlaten, der neben dem Magistraten geritten war). Dieser Kult eines Tyrannenkillers und Befreiers Tell feierte im einfachen und von der Obrigkeit unterdrückten Volk – selbstverständlich ganz zum Aberwillen der so herausgeforderten Schweizer Obrigkeit – Urständ; spätestens seit der „Chronicon Helveticum“ des Glarner Patrizier Aegidius Tschudi ist Tell nämlich keineswegs mehr der Held der kleinen Leute; im 16. Jahrhundert sucht das Patriziat, Tell entweder zu einem der Ihren zu machen, also zum eidgenössischen Patrizier, der mit anderen Lokaladeligen den eidgenössischen Bund gestiftet hat. Wie wenig Tschudi von der Tellen-Figur angetan war, zeigt die Illustration in seiner Chronik. Der dort gezeichnete Tell ist ein krakeliges Strichmännchen, skizziert in einer Zeit, in der die Perspektive längst erfunden und in der Darstellung üblich war. Tschudis Auffassung nicht für den kleinen Mann opponiert; der Bund ist für seinesgleichen gedacht und hat keinesfalls die Freiheit der Hörigen oder gar Leibeigenen im Sinn, auch, weil dies wider die göttliche Ordnung wäre: Gott ist auch in der anbrechenden Neuzeit durchaus standesbewusst und er selbst wünscht im Mittelalter und auch bis weit in die Neuzeit hinein, dass es auf Erden Herren und Knechte gibt. Mit Inbrunst verfolgt deshalb die Obrigkeit das Singen von revolutionären Tell-Liedern und revolutionäre Tell-Schriften werden von den Scharfrichtern öffentlich und rituell vernichtet und einer der Tell-Dichter, ein gewisser Samuel Henzi, wird 1749 in Bern als Aufrührer hingerichtet. Aber so schnell liess sich der revolutionäre Tell nicht verdrängen. Sein Ruf gelangte im Gegenteil sogar in die Neue Welt: Er wird zu einer der wichtigsten Symbolfiguren der amerikanischen Revolution, die in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 ihren Höhepunkt findet. Fast zur selben Zeit etabliert sich Guillaume Tell zur Symbol-Figur der französischen Revolutionäre. Nach der Enthauptung des gestürzten Königs werden Strassen, Plätze und sogar ganze Dörfer nach Tell benannt, es werden Tell-Theater in Paris gegeben und sogar ein Kriegsschiff der französischen Flotte trägt Tells Name, wenigstens so lange, bis sie im Jahr 1800 von den Briten gekapert und in „HMS Malta“ umbenannt wird. Frankreichs Revolutionäre wähnen sich von Tell inspiriert und es beseelt sie der Wunsch, Tells freiheitliches Feuer auch in die Schweiz zu bringen. Am 5. April 1799 brennt Altdorf und im revolutionären Feuer werden nicht bloss 225 Wohnhäuser, sondern auch das Urner Archiv zerstört; die Grossteil der möglichen Quellen aus der Zeit des Tell verschwinden unwiederbringlich und für immer.

3.2 Tell wird zum Killer
Im 17. Jahrhundert geniesst Tell bei der katholischen Bevölkerung der Innerschweiz eine geradezu heiligmässige Verehrung. Dass es sich bei der Tellfigur im Grunde genommen um einen Meuchelmörder handelt, führt allerdings bereits früh zu Kontroversen. Der bereits erwähnte Aegidius Tschudi tadelt schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts Tells Tat als ungestümes Handeln, das den Bund der Eidgenossen gefährdet habe. Der Tyrannenmord an Gessler wird nunmehr umgangen, verschwiegen und der Vergessenheit anheim geführt, und das Sarner Jahrzeitenbuch vermerkt 1653, dass es sich nicht gezieme, auf einer Kanzel und in Anwesenheit des Allerheiligsten von Tells Mord am Landvogt zu erzählen. Dem herr-schenden Patriziat war es wohl recht, dass der Tell auf dem Rütli geschworen hat, dass er aber einen Unterdrücker erschossen hat, passte weniger ins Konzept der damaligen Obrigkeit. Dass der deutsche Dichter Friedrich Schiller – animiert und inspiriert durch seinen älteren, ebenfalls in Weimar wohnenden Dichterkollegen Johann Wolfgang von Goethe – mit „Wilhelm Tell“ eines der berühmtesten Dramen der deutschen Literatur schuf und Rossini zwei knappe Jahrzehnte später mit seiner 1829 in Paris uraufgeführten gleichnamigen Oper auch noch den klassischen Soundtrack lieferte, machte den Schützen und Tyrannenmörder Tell nun quasi zum offiziellen Weltkulturerbe, das Generationen von Freiheitsliebenden auf mannigfache Weisse inspiriert hat.

3.3 Tells Platz
Gerade deshalb ist es eigentlich inzwischen gleichgültig, ob Tell als Person real gelebt hat, ob er – wie König Artus oder Robin Hood – eine Kristallisation verschiedener realer Menschen darstellt oder ob er vom Obwaldner Landschreiber frank und frei erfunden wurde, um seine durchaus als politische Propagandaschrift zu verstehende Chronik mit einem kühnen Helden aufzupeppen. Fakt ist, dass Tell einen festen Platz in der Schweizer Volksseele hat und als Mythos eben durch die ungeheure Wirkungsgeschichte in gewissem Sinn selber zu einer historischen Tatsache geworden ist.

4. TELL – EIN SCHWEIZER USP

Weltberühmt ist nicht nur die Armbrust als Schweizer Produkte-Label; längst hat Tell dem Dänen Toko den Rang abgelaufen und beansprucht auf der internationalen Bühne inzwischen den berühmten Apfelschuss allein für sich. Dieses Plagiat gehört zu den vielleicht berühmtesten Sagen der Welt und es verwundert, wie wenig die Tell-Figur in der populären Kultur der Schweiz einen Platz findet. Zweifelsohne gehört die Figur Tell aber heute zu den weltberühmtesten Schweizern überhaupt. Dieser Umstand ist umso bemerkenswerter, da die Existenz des Schweizer Nationalhelden, es wurde bereits erwähnt, nicht einmal schlüssig bewiesen werden kann bzw. man sogar davon ausgehen muss, dass es ihn nie gegeben hat.

Tell, die Sagengestalt, die Literaturfigur, der Killer und der Nationalheld mit Bergler-Bart und Armbrust – daran hat man sich inzwischen bestens gewöhnt. Und wie verhält es sich mit Tell als Abenteuerfigur und als Kino-Held? Als Held in einer US-Abenteuerserie hat man ihn schon auf den Fernsehbildschirmen sehen können und auch in einer Kinofassung aus dem Jahr 1960, die sich bieder an Schillers Drama hält und vor patriotischen Stereotypen nahezu überquillt. Aber warum sollte die Tell-Sage als Kino-Saga verfilmt werden? Dafür gibt es mannigfache Gründe. Vier gewichtige Gründe seien hier vorweg aufgeführt:
• Das Bestossen eines brachen Bodens.
• Das offensichtliche Potenzial des Stoffes.
• Der interessante Charakter des Protagonisten.
• Die erlaubte Freiheit in dramaturgischer und visueller Hinsicht.

5. TELL IN PERSONA

Tell ist, wir sahen es, eine wahrhaft weltberühmte Abenteuergeschichte; sie scheint allgemeine Gültigkeit zu haben und Parallelen zu heutigen Helden-Epen sind offenkundig, verhält sich ihr Protagonist doch geradezu wie der einsame Rächer eines Westernfilms. Dabei ist die Tell-Figur psychologisch spannend; dies ist bereits auf den ersten Blick be-merkbar und erheischt für die Konzeption der Dramaturgie nicht einmal ein kompliziertes oder ausuferndes Psychogramm. Der Mann ist ein Maverick und Einzelgänger (was wiederum als Parallele zum Western-Helden auffällt), in Schillers Drama ist er sogar offenkundig ein Eigenbrötler und Egoist, den das Geschick der anderen kaum zu kümmern vermag, wenn der Dichter Tell in seinem Drama sagen lässt: „Der Starke ist am mächtigsten allein.“

5.1 Tells Psychogramm
Doch treibt ihn ein inneres Feuer, eine Leidenschaft für Gerechtigkeit vielleicht, ein Emp-finden möglicherweise, das mitunter sogar kohlhaas‘sche Züge trägt. Diese Charakter-eigenschaft ist der Tell-Figur in diesem Film sehr umfangreich ausgestaltet. Aber wie weit darf man gehen, um Rechte einzufordern und Prinzipien durchzusetzen? Bis zum Totschlag? Zum Mord sogar? Und ist am Ende ein wie von Michael Kohlhaas angezettelter Bürgerkrieg sogar legitim, wenn das Motiv stimmt und der Kampf um der Gerechtigkeit willen geführt wird? Fragen, die unser Film nicht beantworten kann, aber es sind Themen, die er streift und die ihn auch deshalb trotz historischem Stoff für die heutige Zeit interessant machen. Tell vertraut allein seiner eigenen Kraft und seinem eigenen Mut. Bereit, zum Äussersten zu gehen, macht er sich an eine riskante Mission: Er tötet den Vogt auf offener Strasse. Oder treibt ihn Zorn und Verblendung zur Tat? Ist Gesslers Tod nicht ein Tyrannenmord, sondern bloss das blutige Ende einer privaten Fehde? Die Interpretationen sind spannend, deren Möglichkeiten mannigfach. Allein eine unglückliche Fügung lässt Tell zum Spielball der habsburgisch-österreichischen Machtpolitik werden. In meinem Tell-Plot verlangt Tell bloss Gerechtigkeit, was ihn in die Mühlen einer brutalen Willkür des Regimes zerrt. Doch geht es Tell am Ende wahrscheinlich – zumindest suggeriert das die Ur-Sage – gar nicht um den Kampf für die Freiheit: ihm geht es allein um Vergeltung: er stellt dem Landvogt Gissler nach und erschiesst ihn kurz vor Küssnacht. Es ist nicht der Mord an einem Tyrannen, sondern die Rache eines Mannes, den die Willkür an den Rand der Verzweiflung brachte. Es ist die rasende Vergeltung des Achilles in der „Ilias“, der den ge-fallenen Gefährten Patroklos rächt und es ist die eiskalte und bleihaltige Vergeltung Clint Eastwoods in „Unforgiven“.

5.2 Der widersprüchliche Nationalheld
Tell verschwindet denn auch nach seinem Mord an Gissler wieder aus der Geschichte. Dass Tell bei der Rettung eines Kindes in einem wilden Bach ertrinkt oder, wie bei Meinrad Inglin, gar 1315 in der Schlacht am Morgarten kämpft, ist wohl eher der Phantasie als der Wirklichkeit geschuldet. Der römische Dichter Ovid hielt fest, dass das Ende ein Werk zu krönen vermöge; zu kurz scheint aber die ursprüngliche Tell-Sage, dass sie nicht noch einen krönenden, heroischen Abschluss fände. Und so gesellt sich im Volksgut die Geschichte zur ursprünglichen Sage, wonach Tell beim Versuch, ein Kind aus dem reissenden Schächenbach zu retten, selbstlos ertrunken sei. Es schleckt keine Geiss weg: Tell ist im Ur-Mythos nicht wirklich Teil des beginnenden Freiheitskampfs, des einsetzenden Aufstands der Eidgenossen, er gehört nicht zu den Verschwörern für Freiheit und Gerechtigkeit. Und im Grunde genommen gehört er auch nicht wirklich zu den Ahnherren der schweizerischen Eidgenossenschaft. Sein Tyrannenmord bleibt eine Episode für sich, ähnlich jener, die vom gehörnten Ehemann erzählt, der den frivolen Vogt von Wolfenschiessen im Bad erschlägt. Und doch bleibt die Sache verworren: Es ist nämlich letztlich Tells ungestüme Tat, die die Freiheitsliebenden zum Handeln zwingt.

6. DER HISTORISCHE HINTERGRUND

Historische Vorlage bildet das bereits erwähnte, um 1470 entstandene erste schweizerische Gründungsepos, heute bekannt als das „Weisse Buch von Sarnen“. Die wichtigsten Figuren werden darin bereits vom Autoren Hans Schriber erwähnt und später vom deutschen Dichter Friedrich Schiller für sein weltberühmtes Drama über den Freiheitskämpfer und Tyrannenmörder Wilhelm Tell in ausgeschmückter Form übernommen. Inwiefern das Weisse Buch von Sarnen tatsächlich die Ereignisse des Jahres 1291 wiedergibt, ist umstritten. Unbestritten indessen ist das Motiv des Autoren Hans Schriber: Eine aufstrebende Eidgenossenschaft sucht ihren Platz zwischen Grossmächten und Kleinstaaten und beruft sich auf ihren Gründungsmythos.

6.1 Streifzug ins späte Hochmittelalter
Eine Erneuerung des Schutz- und Trutzbündnisses der Talschaften Schwyz, Uri und Unter-walden wurde tatsächlich im Sommer 1291 vorgenommen. Historisch belegt sind auch einige in der Tellssage auftauchende Personen. Für einen Realitätsgehalt der Tellsgeschichte gibt es indessen keinerlei historische Beweise und die Hinweise sind unübersehbar, dass die Tellsfigur wohl ein literarisches Konstrukt Hans Schribers ist. Die mittlerweile bekannte Ver-mutung etwa, dass der Apfelschuss in der Tellssage einer skandinavischen Sage entnommen ist, erhärtet sich durch das Faktum, dass sich der Autor des Weissen Buches vor dessen Nie-derschrift tatsächlich eine längere Zeit in Dänemark aufgehalten hatte, wo er von der Toko-Sage gehört haben dürfte. Nach dem Sichten der verfügbaren Quellen sowie Gesprächen (etwa mit dem Historiker und ehemaligen Staatsarchivar von Obwalden, Dr. Angelo Garovi), vertrete ich mit ihm die Meinung, dass die Tellsgeschichte wohl eher Mythos als Historie ist.

6.2 Motiv des Tyrannenmordes
Anfangs des 16. Jahrhunderts wurde die Tellslegende von Ägidius Tschudi weiter verarbeitet und erlangte erste Popularität im Volk. Auf seiner Schweizer Reise wurde der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe auf den Stoff aufmerksam; zurück in Weimar erzählte er seinem jüngeren Dichterkollegen Friedrich Schiller von Tell. Dieser war fasziniert vom Stoff und er fand in der Tötung des Gessler eine geradezu exemplarische Allegorie zum Tyrannenmord – eine Thematik, die Deutschlands Intellektuelle zu jener Zeit (auch hinblicklich der französischen Invasoren) in besonderem Masse umtrieb. Schillers Drama wurde 1804 uraufgeführt und machte die Tell-Saga weltberühmt. Schillers Theaterstück hatte für mich für die Entwicklung meiner Tell-Version allerdings eher wenig Relevanz, zumal Schillers Drama durchaus von den Befindlichkeiten anfangs des 19. Jahrhunderts geprägt ist; so etwa basieren die Namen der Protagonisten und Handlungsorte und diverse Wortschöpfungen in Schillers Tell-Version selbstredend weitgehend auf seinen eigenen Ideen und Vorstellungen, die zwar Tell auch im volkstümlichen Verständnis eine markante Prägung gaben, eine Prägung allerdings, die nur bedingt mit den historischen Fakten korrespondieren und auch wenig über die Volksseele der Urschweizer Bergler ver-mittelt; Schiller war nie in der Schweiz und seine Vorstellung vom rauen Alpenland speiste sich aus den Vorstellungen seiner Zeit und dem Zeitgeist der Klassik und später der Ro-mantik, der in den Alpen und ihren Bewohner vor allem ein Synonym für alles Urwüchstige sah. Und so wie etwa der englische Held und Freiheitskämpfer Robin Hood in den Jahrhunderten und namentlich in den letzten drei Jahrzehnten eine erhebliche Wandlung durchmachte, so scheint auch im Fall des Schützen und Tyrannenmörders Tell jede Epoche ihre eigene Tell-Story zu erzählen. Es ist eine Geschichte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Aber eine Geschichte, die die Schweiz und deren Volksseele nachhaltig geprägt hat.

6.3 Ein komplexes Gefüge
Die politische Ausgestaltung des mitteleuropäischen Raums im Hochmittelalter ist eine höchst komplexe Angelegenheit, deren Klärung und noch mehr deren Darstellung ein nahezu unmögliches Unterfangen zu sein scheint. Zahlreiche Kleinstaaten – kleinere und grössere Fürsten- und Herzogtümer – sowie sich konkurrenzierende Adelsgeschlechter geben das Bild eines Flickenteppichs, und so ist auch das Gebiet der damaligen Schweiz alles andere als ein homogener Raum. Auch die Herrschaftsverhältnisse in den Waldstätten Ende des 13. Jahrhundert waren äusserst kompliziert, zumal auch noch einige Klöster (z.B. die unter der Schutzmacht Habsburg stehenden Klöster Eisiedeln in Schwyz und Engelberg im damaligen Nidwalden oder das Kloster Murbach in Obwalden) ihre Herrschaftsansprüche hatten. Es war darum unerlässlich, für den Film-Plot die Sache etwas zu vereinfachen bzw. verständlich zu machen. Das Hochmittelalter war eine Epoche, die durch den Feudalismus geprägt war. An der Spitze des Reiches stand der König, der nicht zwingend in einer Erbfolge den Thron bestieg. Im 13. Jahrhundert wurde der König von einem politischen Adelsgremium, den Kurfürsten, gewählt. Erst im 14. Jahrhundert entwickelte sich die Dynastie der Habsburger, die den Königsthron und später den Kaiserthron bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinein innehielten. Dem Herrscher untergeben war ein Konglomerat von Adeligen, Herzöge, Grafen, Markgrafen und Fürsten. Das Land gehörte dem König oder dem Kaiser, der es als Souverän dem Adel als Lehen zur Verfügung stellte. Das Gros der Menschen aber waren unfreie Bauern und Leib-eigene, die Abgaben und Steuern zu entrichten hatten, dafür aber den Schutz durch Adel und insbesondere durch die Ritter erhielten. In der Innerschweiz des 13. Jahrhunderts herrschte der Lokaladel, reiche und freie Clans und Familien, die von den zum grossen Teil unfreien Bauern und Hirten ihrerseits Abgaben und Steuern kassierten. Freiheitsbriefe garantierten den Innerschweizer Patriziern das Sonderrecht der Reichsunmittelbarkeit; dies bedeutete, dass die lokal herrschenden Familien direkt dem König unterstellt waren und keine Vögte zwischen ihnen und dem König standen. So oblagen auch die Rechtsprechung und die für das Gefühl der Souveränität besonders wichtige Blutgerichtsbarkeit den führenden Familien, die jeweils auch den Landammann – der Präsident oder Häuptling einer Talschaft – stellten. Der Bundesbrief vom Sommer 1291 war nicht ein Freiheitsbündnis im Sinne der amerikanischen Freiheitserklärung von 1776, die alle Menschen zu Bürgern machte und ihnen die gleichen Rechte einräumte; der Bundesbrief von 1291 war die Wiederbelebung eines vormaligen Schutz- und Trutz-Bündnisses, in dem sich das Patriziat der Stände Uri, Schwyz und Unterwalden gegenseitige Hilfeleistungen in der Wahrung seiner Interessen zusicherte, weshalb das Wohl des gemeinen Mannes und leibeigenen Bauern nicht Gegenstand dieses Bündnisvertrages war. Tatsächlich befand sich das lokale Patriziat in einem stetigen Niedergang, der allerdings weniger dem politischen Druck von aussen als einer sich zunehmend einstellenden Verarmung geschuldet war. In diesem Sinn hatten die Lokaladeligen durchaus Grund, den Verlust ihrer Pfründe zu befürchten. Die Reichsunmittelbarkeit war deshalb ein wichtiges Werkzeug. Mit der Wahl des Habsburgers Rudolf zum König des Heiligen Römischen Reiches wurden die Freiheiten der Mächtigen in der Talschaft nicht zuletzt auch wegen der neuen Passstrasse nach Italien infrage gestellt. König Rudolf I. von Habsburg soll den Freien von Uri und Schwyz die Reichsunmittelbarkeit versprochen haben, allein, die Freiheitsbriefe hatte er nie gesiegelt. Der Tod des Königs anfangs Juli 1291 weckte nun bei den Lokaladeligen die berechtigte Sorge, dass die althergebrachten und von Rudolf gewährten Freiheiten und Privilegien unter dem neuen starken Mann, Herzog Albrecht von Habsburg, definitiv ein Ende haben könnten. Es ist gut vorstellbar, dass nach dem Tod des habsburgischen Königs Rudolf tatsächlich für eine kurze Zeit eine Art Vakuum entstand, was für Spannungen sorgte, namentlich auch, weil die Habsburger-Dynastie auf Thron und Einfluss nicht verzichten und auch die Kontrolle über den erst ein paar Jahrzehnte zuvor erschlossenen Gotthardpass nicht aus der Hand geben wollte. Dieses Machtvakuum und die Spannungen, die damit einhergingen, dürften denn auch die Ursache gewesen sein, ein bereits bestehendes, allerdings eher unbedeutendes Schutz- und Trutzbündnis unter den Freien der Talschaften im August 1291 zu erneuern.

6.4 Das umstrittene Bündnis
Wie wichtig bzw. historisch bedeutend dieses Bündnis vom August 1291 wirklich ist, ist sehr umstritten. Fakt ist, dass der Autor des Weissen Buches, Hans Schriber – immerhin eine mit der Kenntnis von Dokumenten betraute Amtsperson – um 1470 (also keine 200 Jahre zuvor nach dem historisch umstrittenen „Rütli-Schwur) von keinem Dokument oder Bundesbrief zu wissen scheint, und auch in Uri scheint merkwürdigerweise schon 200 Jahre keine Abschrift des Bündnisbriefes vorhanden gewesen zu sein. Der Bundesbrief von 1291 wurde tatsächlich erst im Jahr 1858 zufällig entdeckt und erst 1891 wurde in durchaus politischem Interesse das erst gut dreissig Jahre zuvor entdeckte Dokument zum Urereignis und Gründungsdokument der Schweizerischen Eidgenossenschaft erklärt.

7. ETHNOLOGISCHE ASPEKTE

Die ältesten Körperschaften waren die „Teilsamen“ (Korporation), die noch vor den politischen Gemeinden entstanden sind. Die Teilsamen besassen und verwalteten gemeinsam Wald, Weiden und Alpen; in der Korporation waren alle freien Bauern (später die Alteingesessenen) Mitbesitzer des nutzbaren Weidlands, der Alpen und des Waldes. Bedingung hierfür war die persönliche Souveränität und bis zum heutigen Tag der Umstand, über „eigenes Feuer und Wasser“ zu verfügen, also einen eigenen Hausstand zu besitzen. Nicht Alteingesessene (sog. „Biisäss“) hatten nur ein bedingtes Nutzungsrecht und Zugezogene (sog. „Hindersäss“) gar kein Anrecht auf die Nutzung des teilsamen Landes. Die Verweigerung einer Nutzung des teilsamen Wesens machte es einem Bauern schwer bis unmöglich, wirtschaftlich zu existieren.

7.1 Leben im 13. Jahrhundert
Die mächtigen und einflussreichen lokalen Geschlechter, etwa das der Attinghausen in Uri, die Wolfenschiessen in Nidwalden oder die Rudenz in Obwalden – Warlords im landläufigen Sinn – sind wiederum den Adeligen Habsburg-Österreichs verpflichtet, zum Teil sogar mit diesen verbandelt. Selbst der verruchte Vogt auf dem Landenberg könnte ursprünglich sogar ein einheimischer Nobler gewesen sein, den die Gunst Habsburg-Österreichs schützte und zu einem rücksichtslosen Warlord mit lokalem Herrschaftsgebiet werden liess. Der Einfluss der mächtigen Habsburger aber steigt im 13. Jahrhundert stetig und deren Einflussnahme bleibt latent bestehen. Es bleibt daher die berechtigte Frage, mit wem sich die führenden Clans der Waldstätte näher verbunden fühlten: Mit den adeligen Habsburgern oder mit den Hörigen, Unfreien und Leibeigenen der Talschaften. Schliesslich gehörte man auch zu den Noblen und Freien – in etwa in derselben Art, wie sich nicht selten Kleinstunternehmer mit den Multis solidarisieren, denn schliesslich würde man doch demselben Stand angehören. Einer der Paragraphen im Bundesbrief vom Sommer bzw. Winter 1291 suggeriert denn auch, dass das erneuerte Bündnis alle bisherigen Herrschaftsansprüche gegenüber der eigenen Bevölkerung vollumfänglich und ausnahmslos bestätigt. Man kann deshalb mit Fug und Recht behaupten, dass der Rütli-Bund durchaus auch ein Bündnis der Freien und Reichen der Talschaft war, um sich den nach dem Tod König Rudolfs von Habsburg um 1290 zu erwartenden politischen Turbulenzen aller bisherigen Privilegien und Herrschaftsansprüche zu versichern. Hat sich vielleicht deshalb die Sagenfigur Tell nicht um den angeblichen Ruf der Freiheit gekümmert? War ihm klar, dass es letztlich keinen Unterschied machte, ob man nun den eigenen Noblen oder denen von Habsburg Gehorsam und Tribut zu leisten hatte? Der Bundesbrief von 1291 findet denn in der deutschen Reichspolitik auch kaum Beachtung und ob der Sturm der frischgebackenen Eidgenossen auf die Burgen um Weihnachten des Jahres 1291 tatsächlich stattgefunden hat, muss historisch bzw. archäologisch stark bezweifelt werden. Selbst wenn jedoch kein Ereignis wie ein gewaltsamer Sturm auf die Vogtburgen erfolgt ist, Ende des 13. Jahrhunderts – also zwischen 1291 und 1300 – verschwinden die adeligen Vögte und Warlords von österreichischen Gnaden. Es muss also doch etwas geschehen sein, das die Dinge in Bewegung brachte. Und tatsächlich katapultieren die komplizierten politischen Strukturen das junge Bündnis der Eidgenossen ein erstes Mal eher unvermittelt in die europäische Machtpolitik, als rund zwei Jahrzehnte später die Schwyzer das Kloster Einsiedeln überfallen. Das Kloster jedoch steht unter dem Schutz des Hauses Habsburg-Österreich; ein Exempel zu statuieren scheint für die Grossmacht unvermeidlich. Das vereinbarte Schutz- und Trutzbündnis der Eidgenossen jedoch greift und fügt den habsburgischen Rittern mit ihren Alliierten von Luxemburg bis Tirol am 15. November, am Tag vor St. Othmar 1315, am Morgarten eine blutige Niederlage zu. Die Blüte des gesamten mitteleuropäischen Adels fällt unter den scharfen Klingen der eidgenössischen Hellebarden. Morgarten ist die erste unter vielen militärischen Auseinandersetzungen und Schlachten, die noch folgen werden: Näfels, Laupen, Sempach, schliesslich die drei Schlachten bei Grandson, Murten und Nancy im Burgunderkrieg und schliesslich die Schlachten des Schwabenkrieges ganz am Ende des 15. Jahrhunderts. Nicht nur, aber massgeblich durch diese militärischen Siege wurde die Eidgenossenschaft zur militärischen Grossmacht und die Geschichte der Schweiz tatsächlich bedeutend und in gewissem Sinne monumental, denn jetzt wurden die Rotten zu Heeren und der anarchische Kampfstil mit Axt und Hellebarde wich der geord-neten Phalanx von vier Meter langen Lanzen. Das erbeutete Gold Karls des Kühnen, Herzog von Burgund, weckte Begehrlichkeiten und fast zwei Jahrzehnte dauerte es, bis es endlich unter den Verbündeten verteilt war.

7.2 Der Feudalismus treibt seine Blüten
Das Zinsverbot fällt unter Papst Martin V. und die Geldwirtschaft zieht um 1450 auch in den Alpentälern ein. Die einstigen Simpelbauern merken, dass man das Vieh nicht mehr bloss melken, sondern auch gen Mailand treiben kann, um es gegen klingende Münzen zu tauschen. Und wenn das Vieh feilgeboten werden kann, warum nicht auch Menschen und mit ihnen das Geschick der Schweizer Krieger, die im Blutrausch offenbar den Tod nicht fürchten, sich sogar um das Privileg streiten, in der ersten Reihe, dem sogenannt „verlorenen Haufen“ zu kämpfen. Schweizer Krieger werden zum Exportschlager: Sie bringen Geld in die Täler und bringen erst noch Abhilfe gegen die Überbevölkerung. Was will man sonst mit den jungen Burschen machen, wenn das bäuerliche Erbrecht einzig den ältesten Sohn begünstigt? Wohin soll man mit den kräftigen Buben, die nichts zu tun haben und keine Perspektiven für ihr Leben besitzen? Soll man etwa zuwarten, bis sie sich zusammenrotten, um sich gewaltsam zu holen, was man ihnen allen vorenthält? Sicher nicht! Besser ist es, dem Markt zu geben, was er begehrt. Dann sind die Rüpel fort und es herrscht Ruhe im Tal. Und die vornehmen Familien streichen erst noch fette Pensionen ein, egal, ob vom französischen oder vom spanischen König, vom Papst oder dem Fürsten von Mailand. Bald kämpfen die Jungen für die fremden Fürsten gegeneinander. Friede und Einigkeit innerhalb des eidgenössischen Bündnisses gilt zu Hause. Was in Italien passiert, geht keinen etwas an, solange Taler und Pfennig rollen. Das Söldner-Gewerbe nimmt immer groteskere Züge an und die Landammänner und Schult-heisse lassen sich von den Königen und Fürsten der umliegenden Länder in unverschämtem Ausmass bestechen. Freie Eidgenossen? Von wegen! Während die einflussreichen Familien den Hals nicht vollkriegen, kämpfen die grobschlächtigen Jünglinge des eidgenössischen Bündnisses unter verschiedensten Bannern nun gegeneinander, weiden sich aus für fremde Herrscher und zum Wohl der Reichen in ihrer Heimat. Die Eidgenossen entwickeln in der Folge Grossmachtgelüste, die jedoch bei der Schlacht von Marignano im Jahr 1515 im Blut der sinnlos Getöteten untergehen. Doch zurück ins Jahr 1291: die Täler sind eher spärlich bewohnt. Ereignisse sind selten und mit einer Handvoll Soldaten – Ritter und Kriegsknechte – sichern sich die die Provinzfürsten ihre Macht. Die Drohung, bei Bedarf über weit stärkere Kriegskontingente zu verfügen sowie das Zusammenwirken mit den lokalen Reichen und Vornehmen macht es den Habsburgern nicht schwer, die Vorherrschaft zu sichern. Ihr Regime beschränkt sich aber vorwiegend auf das Eintreiben der Steuern. Weitergehende Regulierungen, etwa das Untersagen des Tragens von Waffen oder die Jagd auf Grosswild, sind in den Sümpfen und Urwäldern dieser Gebirgstäler kaum durchzusetzen. Der deutsch-römische Kaiser ist genauso fern wie der Papst in Rom, Umstände, die die sture Eigenwilligkeit der Hirten und Jäger in den Innerschweizer Alpentälern wohl noch zusätzlich fördert.

7.3 Bauten und Häuser
Man wohnte in mit Holzschindeln gedeckten Holzhäusern, meist einstöckig, bei vornehmeren oder reicheren Familien waren es aus Balken gefügte Häuser mit bis zu drei Etagen. Im Raum befand sich eine Feuerstelle, wobei man auf einen Kamin verzichtete; der Rauch zog einfach durch die Nischen unter dem Dach ab. Dem einfachen Volk war es nicht gestattet, Häuser aus Stein zu errichten. Steinerne Häuser waren ein Privileg des Adels und in der ersten überlieferten Tellsgeschichte im „Weissen Buch von Sarnen“ von 1470 wird ein Streit zwischen dem Landvogt „Gjissler“ und dem Schwyzer Landammann „Staupbacher“ geschildert, der es gewagt hat, sich ein steinernes Haus zu bauen. Diese Auseinandersetzung mag als Hinweis gewertet werden, dass der Vogt den Landammann nicht mehr wie einen lokalen Adeligen, sondern wie einen gewöhnlichen Untertanen sieht.

7.4 Sitten und Mode
In Mode und Sitte war das Hochmittelalter in der Schweiz eine pragmatische und ebenso raue wie bodenständige Epoche. Oft wurde das Gesetz in die eigene Hand genommen, Blutfehden und Blutrache – im alemannischen Verständnis Pflicht der Verwandten – waren an der Tagesordnung. Das Haar trugen die Bergler mehrheitlich lang, Bärte und Schnauzbärte waren üblich und die Kleidung bestand aus einer einfachen Tunika, aus Beinlingen und Lederschuhen. Gegen die Kälte halfen Wollmäntel, aber auch Mäntel und Umhänge aus Leder und Fell. Insbesondere Ziegenfell eignete sich bestens, den eisigen Wind der Berge abzuhalten. Die Farben waren eher im Bereich der Naturtöne, wobei auch rötliche Farben hergestellt werden konnten. Schwieriger war das mit tiefem Blau, das man mittels Indigo herstellte. Ein teures Unterfangen, das nicht die Sache des kleinen Mannes war. So trägt im Film Landammann Attinghausen zwar kein übermässig ausgestattetes Gewand; aber es ist blau. Und Indigo musste man sich erst noch leisten können. Interessanterweise gehört das Hochmittelalter der Urschweiz hygienisch eher zu den vorbildlicheren Epochen: Baden und Haare Entfilzen gehörte quasi zum Alltag der Innerschweizer Bergler und da im Gegensatz zu städtischen Regionen weit weniger Getreideprodukte verzehrt wurden, war es auch um die Zahnhygiene der Berglerinnen und Bergler verhältnismässig gut bestellt. Das Baden mit einer Frau impliziert aber durch das ganze Mittelalter hindurch eine sexuelle Handlung und wird quasi als Vorspiel zum Liebesakt verstanden.

7.5 Landwirtschaft
Die Landwirtschaft besteht im Übrigen keineswegs nur aus Milch- und Viehwirtschaft; die Erfindung des Hartkäses, der die Milch über einen längeren Zeitraum haltbar machte, kam erst später, weswegen die Milchwirtschaft in erster Linie der Selbstversorgung diente. Noch bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts war die Milchwirtschaft von marginaler Bedeutung, und wir wissen, dass noch der Vater des Schweizer Mystikers Niklaus von Flüe als Bauer vor allem „zu Acker gefahren“ ist. Das im Hochmittelalter herrschende günstige Klima ermöglichte den Ackerbau sogar in grösserem Umfang und in Unterwalden und namentlich in Obwalden wurde im 12. und 13. Jahrhundert sogar erfolgreich Wein angebaut.

7.6 Glaube und Religion
Die Schweiz war im 13. Jahrhundert weitgehend christianisiert. Es war aber eine Form des Christentums, das wenig oder nichts mit der heutigen Ausprägung zu tun hatte. Wenn die Menschen an den erlösenden Tod und die Auferstehung Christi glaubten, war das gewiss nicht im heute bekannten Kontext einer jüdisch-christlichen Theologie. Ausserhalb des Klerus konnte kaum jemand lesen oder schreiben, weshalb die Menschen auf die Deutung der Schrift durch ihre Geistlichkeit angewiesen waren. Fresken in Kirchen etwa illustrierten den Menschen die Bibel und insbesondere die Passion Christi. Das Christusbild gewann neue Züge und das Leiden Jesu am Kreuz gewann stärker an Bedeutung; zur Mitte des 13. Jahrhunderts verdrängte die Gotik des am Kreuz leidenden Jesus nun den am Kreuz triumphierenden Christus des romanischen Stils. Die ganzheitliche Christianisierung Mitteleuropas und insbesondere des Alpenraums dürfte erst Ende des 14. Jahrhunderts und definitiv zu Beginn des Konzils von Konstanz (1414–1418) als abgeschlossen bezeichnet werden. Mit dem Einzug des Christentums verschwand die alte alemannisch-germanische Mythologie aber keineswegs, und im einfachen Volk wurden wohl noch bis zum 14. Jahrhundert und darüber hinaus die alten germanischen Gottheiten – Wotan, Donar, Freya u. a. – verehrt oder sie spielten zumindest im Volksempfinden eine wichtige Rolle. Die Psychoanalytikerin und C. G. Jung-Schülerin Marie-Louise von Franz wies in ihren berühmten und wissenschaftlich weitgehend anerkannten Forschungsarbeiten über die Visionen des bereits erwähnten Schweizer Mystikers Niklaus von Flüe auf die unzweifelhaften Spuren einer germanischen Mythologie hin, die den Visionen von Bruder Klaus innewohnen: Wenn ihm in einem seiner Gesichte „ein Mann in Pilgers Art“ begegnet ist, so handelte es sich beim geheimnisvollen Wanderer mit grossem Hut und Wanderstock natürlich stets um eine Wotan-Erscheinung, und auch der von Niklaus von Flüe später fast in erotischem Rausch beschriebene Bärenhäuter (Berserker) dürfte kaum in einem jüdisch-christlichen Kontext stehen. Entsprechend behielten auch die alten Kultplätze ihre Bedeutung, worauf der im Film gezeigte Gerichtsplatz Bezug nimmt: Ein Platz in einer Moorlichtung mit einem kleinen Torf-See und mit einer Eiche; Eichen spielten nicht bloss bei den Kelten, sondern auch bei den Germanen eine wichtige Rolle; ebenso Moore und Seen, in denen Germanen ihren Gottheiten opferten, indem sie wertvolle Gegenstände im See versenkten. Im Film wird also nicht auf dem Dorfplatz von Altdorf Gericht gehalten, sondern auf der Kultstätte der Väter unter einer grossen Eiche – eine Vorstellung, die einem höfisch erzogenen Adeligen (wie eben dem Landvogt Gisssler im Film) tatsächlich zumindest seltsam, vielleicht sogar lächerlich vorgekommen sein dürfte. Mit diesem Schauplatz implizieren wir im Film das Archaische und Mythische, das für das ethnologische Verständnis von Zeit und Menschen der Urschweiz des 12. und 13. Jahrhunderts unabdingbar ist.

7.7 Das Rechtswesen
Die Gerichtsbarkeit oblag im frühen Hochmittelalter, wie bereits erwähnt, den Talschaften und namentlich den Landammännern. Besonders stolz war man auf das Recht der Blutgerichtsbarkeit, wovon noch heute die Insignien einiger Kantone zeugen: Das Landesschwert, das als solches auch das Recht auf das Blutgericht und somit auf die volle Souveränität symbolisiert, und noch bis hin zur Abschaffung der Obwaldner Landsgemeinde anno 1998 wurde im Umzug zum Ring der Regierung und den Parlamentsmitgliedern vom Landweibel dieses Schwert für das ganze Volk sichtbar vorangetragen. Inwieweit tatsächlich Vögte das Recht auf die Gerichtsbarkeit einschränkten oder gar unterbanden, ist umstritten und nur schwer auszumachen. Es mag aber zutreffen, dass in gewissen Zeitabschnitten eingesetzte Vögte diese Souveränität in Frage stellten. Die Rechtsprechung funktionierte unter martialischen Vorzeichen: Es gab verschiedene Exekutionsarten, die dem Verbrechen des für schuldig Befundenen entsprach. Auf Totschlag im Affekt oder politisch motivierten Totschlag stand als sogenannte „ehrliche Strafe“ die Enthauptung; Diebe indessen wurden unehrenhaft gehängt. Auf gemeinen Mord stand das Rad, was ebenfalls einen unehrenhaften Tod bedeutete: So wie die Gehängten überliess man Geräderte den Krähen und dem Verwesungsprozess und verweigerte ihnen damit ein christliches Begräbnis in geweihter Erde. Inwieweit man den nicht Bestatteten damit den Seelenfrieden entreissen wollte, ist nicht immer ganz klar, aber es ist zumindest zu vermuten.

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